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Max Horkheimer - Das Vorurteil (1961)

 

03.08.2025

 

1961 als Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht (FAZ Nr. 116 vom 20. Mai 1961). Sodann in der Sammlung "Sociologica II" im Jahr 1962. Meine eigene Quelle ist „Max Horkheimer/Theodor W. Adorno Soziologica“, Europäische Verlagsanstalt 1984, S. 87-93

Max Horkheimer war ein bedeutender deutscher Sozialphilosoph und einer der zentralen Köpfe der Frankfurter Schule, einer einflussreichen Denkrichtung im 20. Jahrhundert.

Horkheimer war ab 1931 Direktor des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt – ab 1933 Exil in der Schweiz, ab 1934 Emigration in die USA. Dort errichtet Horkheimer an der Columbia University in New York erneut das Institut für Sozialforschung. Er entwickelte mit Erich Fromm, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse und vielen weiteren Mitarbeitern der „Zeitschrift für Sozialforschung“ (deren Herausgeber 1932 bis 1939 Horkheimer ist) kritische gesellschaftstheoretische Stellungnahmen, die ‚Kritische Theorie‘, die z.B. mit Erich Fromm psychologische Gesichtspunkte mit einbezog. Nach vielerlei Projekten in den USA (er ist seit 1940 US-amerikanischer Staatsbürger) wird Horkheimer ab 1949 wieder Ordinarius für Sozialphilosophie an der Frankfurter Universität, was ab 1930 schon vor der Emigration der Fall war.

Ein wichtiges Projekt während dieser Zeit in den USA waren die “Studies in Prejudice”, die sich insgesamt auf 5 Bände beliefen:

Die „Studies in Prejudice“ [Vorverurteilung, Voreingenommenheit, Vorurteil] wurden im Wesentlichen durch Max Horkheimers Gesamtplan initiiert, der in den späten 1940er-Jahren Gestalt annahm. Die Veröffentlichung der fünf Bände erfolgte 1949/50 unter seiner Leitung und in Zusammenarbeit mit dem American Jewish Committee.

Die konzeptionellen Vorarbeiten reichen jedoch weiter zurück: Bereits zwischen 1932 und 1936 arbeitete Horkheimer an Forschungsprojekten über Antisemitismus, Vorurteile und Autorität, die später in die „Studies in Prejudice“ einflossen. Diese frühen Studien wurden unter anderem in Paris veröffentlicht und zeigen, dass Horkheimer schon lange vor der offiziellen Publikation an den theoretischen Grundlagen arbeitete. Die „Studies in Prejudice“ bestehen aus fünf wegweisenden Bänden, die sich jeweils mit unterschiedlichen Aspekten von Vorurteilen und Antisemitismus beschäftigen. Hier ist eine Übersicht:

1. The Authoritarian Personality

  • Autoren: Theodor W. Adorno, Else Frenkel-Brunswik, Daniel Levinson, Nevitt Sanford
  • Inhalt: Eine tiefgehende Untersuchung autoritärer Persönlichkeitsstrukturen und deren Zusammenhang mit Vorurteilen. Basierend auf psychologischen Tests und Interviews.

2. Anti-Semitism and Emotional Disorder [emotionale Störung]

  • Autoren: Nathan W. Ackerman, Marie Jahoda
  • Inhalt: Psychoanalytische Interpretation von Antisemitismus als Ausdruck emotionaler Störungen.

3. Dynamics of Prejudice [Mechanismen von Vorurteilen]

  • Autoren: Bruno Bettelheim, Morris Janowitz
  • Inhalt: Soziologische und psychologische Studie über Veteranen und deren Vorurteile. Untersucht die sozialen Bedingungen, die Vorurteile fördern.

4. Prophets of Deceit [Irreführung, Täuschung]

  • Autoren: Leo Löwenthal, Norbert Guterman
  • Inhalt: Analyse der rhetorischen Strategien populistischer Agitatoren in den USA. Zeigt, wie Sprache zur Manipulation und Verbreitung von Hass genutzt wird.

5. Rehearsal [Probedurchlauf] for Destruction

  • Autor: Paul Massing
  • Inhalt: Historische Studie über politischen Antisemitismus im kaiserlichen Deutschland. Betrachtet die ideologischen und sozialen Wurzeln.

Diese Studien wurden unter der Leitung von Max Horkheimer und mit Unterstützung des American Jewish Committee veröffentlicht. Sie gelten bis heute als Meilensteine der kritischen Sozialforschung.

 

Nun zu dem relativ kurzen Zeitungsartikel von Max Horkheimer „Über das Vorurteil“, in welchem er  wesentliche Einsichten zu dem Thema darstellt.

Er geht zunächst von einer neutralen Bestimmung von Vorurteilen aus, die sozusagen lebensnotwendig sind. Sodann leitet er über in eine leicht negative Art von Vorurteilen, die aufgrund von übermäßig positiver Selbstvorstellung und entsprechender Selbstdarstellung herrühren. Solche Vorurteile sollten eigentlich korrigiert werden, was den Betreffenden aber mehr oder minder schwerfällt, je nach dem Grad, wie es dabei um die ‚Selbsterhaltung‘ im Rahmen der sozialen Einfügung geht. (Ich persönlich denke dabei paradigmatisch an den Autoverkäufer, der aus ‚Selbsterhaltung‘ möglichst viele Interessenten rumkriegen will, weil er für jeden erfolgreichen Verkauf eine Prämie [also Geld für seinen Lebensunterhalt] bekommt. – Andere denken vielleicht auch an attraktive junge Frauen, wenn sie ‚eingebildet‘ sind.)

Nun kommt Horkheimer zu dem, was man heutzutage üblicherweise mit dem Begriff ‚Vorurteil‘ verbindet, nämlich negatives, übelmeinendes bis hin zum bösartigen Vorurteil. „Es gibt dunklere Triebe, die noch auf andere Weise mit Vorurteilen in Verbindung stehen. Machtgier, Neid, Grausamkeit (…)“ [S.88].

Interessant, und meines Ermessens wirklich wichtig ist es, dass Horkheimer die negativen Vorurteile mit Erziehungsversagen in Verbindung bringt: „Selten geschieht es, dass die Institutionen der entfalteten Gesellschaft im Verein mit hellsichtiger Erziehung Menschen zu Erwachsenen machen, die ohne Rückhalt sich der eigenen Arbeit und dem Glück des Ganzen sich widmen können. Zumeist bleiben seelische Narben zurück.“ [S.88] ‚Seelische Narben‘ sind eine milde Formulierung für die keineswegs harmlosen Folgen eines so Geschädigten, also einem „Anfälligen“ (S.89), wenn dieser zum zwanghaften Träger negativer Vorurteile gegen andere Menschen wird, oder Vorurteile gegen ganze Menschengruppen und Völker hat: Der Jude, der Neger, die Russen, die Deutschen, die Amis, die Schwulen, die Inder, die Chinesen, die Araber, die Türken, usw. Als ob es da nix zu differenzieren gäbe.

Entsprechend kommt Horkheimer sodann zum „Vorurteil des Hasses“, das seiner Ansicht nach „unverrückbar“ ist, „weil es dem Subjekt gestattet, schlecht zu sein und sich dabei für gut zu halten.“ (S.88). Und dann anschließend noch die wichtige Feststellung von Horkheimer: „Je mehr die Bekenner die Falschheit ihres Glaubens ahnen, desto begeisterter halten sie an ihm fest. Das starre Vorurteil schlägt in Fanatismus um.“ [S.88].

Dass negative Vorurteile mit einer ungebührlichen Aufblähung des eigenen Ich zu tun haben, beschreibt Horkheimer mit dem folgenden instruktiven Beispiel: „Dass der Neger wesensmäßig schlechter ist, bedeutet, dass der Weiße wesensmäßig besser ist, er braucht nichts dafür zu tun. Wenn es genügt, die Hautfarbe zu kennen, um über jenen den Stab zu brechen, gleichviel, was er als Einzelner auch denkt und tut, dann sind dem eingesessenen Weißen seine eigenen moralischen Qualitäten garantiert. Sein Ich wird dadurch aufgebläht, dass er der richtigen Rasse angehört. An die Stelle eigener Verdienste tritt die Mitgliedschaft in einem Kollektiv.“ [S.89]

Mit solcherlei Vorurteilsbildung entsteht eine Resistenz gegen vernünftige Argumentation: „Das Tor ist geschlossen gegen alles, was der andere auszudrücken vermag. Er gilt nicht mehr als ein Wesen, mit dem umzugehen und zu sprechen vielleicht ein Vehikel der Wahrheit ist. Er gehört zu einer niederen Gattung.“ [S.91].

Und jetzt kommt ein Satz, den man sich in goldenen Lettern einrahmen sollte: „Wenn vom Geist die Kraft nicht abzulösen ist, den anderen zu erhöhen, indem sie das Höhere in ihm entdeckt, dann sind die vorurteilsvollen, ‚autoritären‘ Charaktere der Widerpart des Geistes.“ [S.91].

Horkheimer geht sodann auf den ‚autoritären Charakter‘ ein, eine Thematik, die von Erich Fromm in die Kritische Theorie eingebracht wurde, und in dem Band 1 der ‚Studies in Prejudice‘ ausführlich mit statistischen Analysen und deren Interpretation behandelt wurde (siehe oben).

Das ‚Höhere‘ des erkennenden kritisch-humanistischen Geistes ist allerdings nicht platt das hierarchisch Höhere. Diese Art, das ‚Höhere‘ zu denken, ist nicht kompatibel mit dem, wie Horkheimer das Thema ‚Geist‘ sieht: „Die Autoritären pflegen hierarchisch zu denken, teilen die Menschheit nach der sozialen Stufenleiter ein. Sie haben feste Maßstäbe, schließen an das je Bestehende genau sich an (…)“ [S.91]. „Sie haben eine feine Witterung für Machtverhältnisse, nach ihnen richten sie ihr Leben ein.“ [S.91].

Zum Schluss des kleinen Aufsatzes geht Horkheimer noch auf die Chancen der Vernunft gegen bösartige Vorurteile ein. Dazu zitiert er Theodor Mommsen, einen seinerzeit unter Gebildeten berühmten deutschen Geschichtsforscher (1902 – Nobelpreis für Literatur für sein Hauptwerk „Römische Geschichte“). Er wurde einmal gebeten sich zum Antisemitismus zu äußern.  In seinem Antwortschreiben hieß es: „Sie täuschen sich, wenn Sie annehmen, dass überhaupt etwas durch Vernunft erreicht werden könnte. In vergangenen Jahren habe ich das selbst geglaubt und fuhr fort, gegen die ungeheuerliche Niedertracht des Antisemitismus zu protestieren. Aber es ist nutzlos, völlig nutzlos. Was ich oder irgendjemand anders Ihnen sagen könnte, sind in letzter Linie Argumente, logische und ethische Argumente, auf die kein Antisemit hören wird. (…) Sie sind taub für Vernunft, Recht und Moral.“ [S.91/92].

Wirklich interessant ist auch der Schluss des kleinen Traktats: Das Vorurteil im destruktiven Sinn „macht das verdinglichte Bewußtsein zum Gericht, bei dem das Verdikt schon vorher feststeht, was der Angeklagte immer vorbringen mag. Rede und Gegenrede, Anklage und Verteidigung, das ganze Verfahren ist Schein.“ [S.92].

Und ganz zum Schluss: „Wenn die Wahrheit das Ziel ist, dem das Denken, wie Kant es meinte, in unendlichem Prozeß sich nähern soll, hat sie im verhärteten Urteil ihr schwerstes Hindernis.“ [S.93].